Viele von uns kennen die Situation: Sie verteilen eine Anleitung an Kollegen aus der Entwicklungsabteilung zum Korrekturlesen. Ein Entwickler wirft einen Blick auf den Stapel Papier und sagt: „Ganz schön dick – die Anleitung.“ Viele Redakteure fühlen sich durch diese Aussage angegriffen ja sogar verletzt. Entsprechend ihren Gefühlen reagieren sie recht aggressiv oder auch eingeschnappt. Andere Redakteure rechtfertigen sich und betonen die Notwendigkeit der technischen Dokumentation. Diese Ausführungen ergänzen viele auch gerne mit einem Ausflug in die Welt der Normen. Was ist gewonnen? Selten stellen diese Reaktionen einen guten Einstieg in ein Gespräch oder den Korrekturlauf des Dokumentes dar. Ich möchte in diesem Beitrag eine Alternative aufzeigen. Wenn Sie die Situation mit Hilfe des Vier-Ohren-Modells betrachten, dann können Sie neue, andere Reaktionsmöglichkeiten entwickeln.
Vier-Ohren-Modell oder auch Vier-Seiten-Modell
Das Modell des Hamburger Kommunikationswissenschaftlers Friedrich Schulz von Thun basiert auf psychologischen und sprachtheoretischen Analysen. Es bezieht sich u. a. auf die Erkenntnisse des österreichischen Kommunikationswissenschaftlers, Psychotherapeuten und Soziologen Paul Watzlawick.
Man kann nicht nicht kommunizieren!
Lesen Sie den Satz bitte mehrmals, um seine volle Bedeutung zu erfassen.
Vier Seiten einer Nachricht
Nach dem Vier-Ohren-Modell wird jede Nachricht auf vier Ebenen beleuchtet oder anders ausgedrückt, jede Nachricht hat vier Seiten:
- Sachebene (eine Sachinformation, worüber ich informiere)
- Selbstoffenbarungsebene (was ich von mir zu erkennen gebe)
- Beziehungsebene (was ich von Dir halte oder wie ich zu Dir stehe)
- Appellebene (was ich bei Dir erreichen möchte)
Jeder Empfänger nimmt diese Nachrichtenebenen individuell wahr, versteht die Botschaft sehr unterschiedlich und reagiert entsprechend.
Vier Ohren des Empfängers
Die Gewichtung der einzelnen Ebenen einer Nachricht kann der Sender steuern. Wie aber der Empfänger die unterschiedlichen Seiten der Nachricht wahrnimmt und versteht, obliegt alleine dem Empfänger. Nach Schulz von Thun haben wir alle (als Empfänger) vier Ohren:
- Sachohr (nimmt vorwiegend den Sachgehalt einer Nachricht wahr)
- Selbstoffenbarungsohr (hört vor allem, was der Sender über sich selber sagt)
- Beziehungsohr (ist empfänglich für Hinweise auf die Beziehung des Senders zum Empfänger)
- Appellohr (nimmt vorwiegend die Aufforderung einer Nachricht wahr)
Zurück zu dem Szenario „Ganz schön dick – die Anleitung“
Betrachten Sie nun diese Äußerung unter Beachtung des Vier-Ohren-Modells.
Auf den verschiedenen Ebenen kann der Kollege meinen:
- Sachebene: Eine 200-seitige Anleitung ist ein Haufen an Papier.
- Selbstoffenbarung: Mir war nicht klar, dass man soviel schreiben kann.
- Beziehungsebene: Kollege, Du hast Dir viel Arbeit gemacht.
- Appellebene: Sag mir, ob ich alles lesen soll.
Als technischer Redakteur können Sie dagegen die Äußerung auf den verschiedenen Ebenen aufnehmen:
- Sachebene: Das sind viele Seiten.
- Selbstoffenbarung: Ich will die Seiten nicht lesen.
- Beziehungsebene: Du kannst sehr viel schreiben.
- Appellebene: Schreib beim nächsten Mal weniger!
Reaktionsmöglichkeiten des Redakteurs
Entsprechend der Sachebene könnten Sie als technischer Redakteur freundlich lächeln und bestätigen, dass 200 Seiten viel Papier ist. Auf diese Weise signalisieren Sie, dass Sie die Äußerung wahrgenommen haben und verschieben alles auf die Sachebene, wo es im professionellen Umfeld auch hingehört.
Entscheidend ist es aus meiner Sicht, dass wir uns nicht angegriffen fühlen und uns auch nicht für unsere Arbeit zu rechtfertigen. Wichtig ist es, das Gespräch zu dem Ziel zu führen. Es geht in dem Treffen z. B. darum den Ablauf der Korrekturphase zu organisieren.
Beachten Sie bei der Reflexion einer Äußerung auch immer die Betonung, die Mimik und die Gestik. Insbesondere Informationen zur Beziehungsebene werden mit Hilfe des Tonfalls oder eines Lächelns übermittelt.
Ich erlebe häufig, dass Redakteure vor allem mit dem Appellohr hören. Daher fühlen sich viele gezwungen, sich zu rechtfertigen.