Sichtbarkeitslinien der technischen Redaktion

Technische Dokumentation ist immer eine Dienstleistung. Dabei arbeiten technische Redakteure nicht allein, sondern sind auf die Unterstützung von anderen Personen (Entwickler, Konstrukteure, Auftraggebern, Netzwerkpartner etc.) oder Organisationen angewiesen. Einer ist vom guten Service des anderen abhängig. Nicht unerheblich für das Funktionieren jeder Servicekette ist aus meiner Sicht, dass alle Beteiligten eine Vorstellung davon haben, was der/die andere tut und auch braucht. Dabei ist es hilfreich, sich bewusst zu machen, was die anderen Personen von seiner eigenen Arbeit wahrnehmen können.

Sichtbarkeitslinie

G. Lynn Shostack hat sich 1984 im Harvard Business Review mit Serviceprozessen auseinandergesetzt. Ein Aspekt ihrer Überlegungen bestand in der Betrachtung der Beziehung und Interaktion zwischen Kunde und Service. Sie entwickelte dabei den Gedanken von einer Line of visibility (Sichtbarkeitslinie). Als Kunde oder Abnehmer von Dienstleistungen können Sie nur bis zu dieser Sichtbarkeitslinie sehen. Die Abläufe dahinter sind für Sie verborgen.
Ein Beispiel
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Restaurant, wollen etwas Leckeres essen und bestellen beim Kellner. In der Regel machen wir uns keine Gedanken, von wem und wie unsere Wünsche realisiert werden. Uns bleibt meist verborgen, wie das Gericht zubereitet wird. Die Vorgänge hinter der Küchentür liegen für uns im Dunkeln. Diese Tür fungiert als die Sichtbarkeitslinie zwischen Gast und Restaurantbetreiber. Wer sich in Restaurantküchen auskennt, kann ahnen, welche Prozesse dort ablaufen. Aber auch ein Küchenexperte weiß nicht, wie die Arbeit in dieser speziellen Küche organisiert ist und wer an welchem Zubereitungsschritt beteiligt ist. Wir ahnen z. B. auch nicht, ob das Rezept für unser Gericht auf den Erkenntnissen der letzten Fortbildung der Köchin oder ein altes Familiengeheimnis beruht.
Aber wer kennt es nicht, im Restaurant mit knurrendem Magen zu sitzen und das Essen lässt auf sich warten. Oder: Das servierte Gericht entspricht nicht unseren Erwartungen. In diesen Situationen fragen wir uns, warum etwas so lange dauert oder warum dieser blöde Fehler aufgetreten ist. Unser Unverständnis und auch unsere Ungeduld beruht, meist auf dem Nicht-Kennen oder Nicht-Sehen, was hinter der Küchentür – der Sichtbarkeitslinie passiert.

Transparenz hilft
Aus Dienstleistersicht kann es daher sinnvoll sein, Kunden und auch Kollegen einen Einblick hinter die Sichtbarkeitsgrenze zu geben. Insbesondere wenn Menschen länger zusammenarbeiten, ist es hilfreich, sich die gegenseitigen Abläufe sichtbar zu machen.
Voraussetzung dafür ist, dass alle Beteiligten Ihre eigenen Prozesse kennen und außerdem verstehen, welche eigene Handlungen andere Personen wahrnehmen können.

Sichtbarkeitslinien der technischen Redaktion
Ebenso wie wir nicht wissen, wie das leckere Gericht auf unserem Restaurantteller zustande kommt, ahnen Ihre Kollegen nicht, welche Arbeit mit einer Anleitung verbunden ist. Die Redaktionstür stellt häufig die Sichtbarkeitslinie dar, bis zu der Kollegen, Auftraggeber oder auch Vorgesetzte die redaktionelle Arbeit wahrnehmen können.

Was kann ein Entwickler oder Konstrukteur von der Arbeit der technischen Redaktion wahrnehmen? Vielleicht sieht er hin und wieder technische Redakteure, wie sie sich ein neues Produkt ansehen oder wie sie im Gespräch mit Kollegen sind. Oder der Fachmann bekommt Fragen zum neuen Produkt von der Redaktion oder einen Text zum Lesen und Prüfen. Der Entwickler nimmt die Redaktionsarbeit also in Einzelteilen wahr, ohne dass sich ihm sofort die Zusammenhänge der Einzelschritte oder der Sinn einzelner Arbeiten erschließen.
Es ist aus meiner Sicht sinnvoll und notwendig, den Entwickler so zusagen ins Boot zu holen und ihm kurz den Erstellungsprozess zu erläutern. Meiner Erfahrung nach verbessert es die Zusammenarbeit ungemein, wenn die anderen Personen wissen, wann und warum sie was tun sollen. Jeder ist froh, wenn er das Gefühl hat, etwas sinnvoll zu tun.
Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

2 thoughts on “Sichtbarkeitslinien der technischen Redaktion

  • 5. September 2013 um 10:59
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    Sichtbarkeitslinie ist ein gutes Stichwort, auch für Übersetzungsdienstleistungen. Wir haben auch die Erfahrung gemacht, dass es hilft, den Kunden zu erklären wie welcher Aufwand zu Stande kommt und welche Prozesse alle bei einem Projekt nötig für ein gutes Resultat sind.
    Beispiel Softwaretools – es wird gerne von Herstellern suggeriert, dass heute praktisch alles vollautomatisch abliefe und der Aufwand minimal wäre. Wenn man anhand von Beispielen zeigen kann, was Software leistet und was nicht und welche Voraussetzungen dafür die Texte erfüllen müssen, wird der Kunde „mündig“ in diesem Bereich und kann Leistungen auch besser vergleichen. Leider bekommt man ja nicht immer die Möglichkeit, das Gegenüber überhaupt hinter diese Sichtbarkeitslinien zu holen, richtige Kommunikation setzt ja bekanntermaßen beidseitige Bereitschaft voraus. Das Gericht kann vielleicht teurer sein oder länger dauern als woanders, schmeckt dafür aber dann umso besser, vor allem wenn man weiß, was drin ist :-).

  • 5. September 2013 um 11:37
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    Hallo
    danke für Ihre Ergänzung.
    Viele Grüße
    Britta Görs

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