Und wieder: Zielgruppen

2013 startet mit einem Sammelband zur Zielgruppe in der technischen Dokumentation. Schon 2012 gab es eine Vielzahl von Beiträgen zu diesem Themengebiet (z. B. Blogbeiträge von Markus Nickl, von mir, der Artikel von Jürgen Muthig und Robert Schäflein-Armbruster) und nun einen Sammelband. Freudig und in Erwartung neuer Impulse nahm ich ihn zu Hand. Um es vorweg zu sagen, ich wurde enttäuscht. Klar ein paar neue Aspekte und der ein oder andere Beitrag ist gut geschrieben, aber ich hatte mehr gehofft.
Im Folgenden möchte ich zunächst den Sammelband darstellen, um anschließend meine Enttäuschung kurz zu formulieren.

Hennig, Jörg / Tjarks-Sobhani, Marita (Hrsg.) (2013): Schriften zur Technischen Kommunikation. Bd. 17 : Zielgruppen für Technische Kommunikation. Lübeck : Schmidt-Röhmhild

Die Artikel des Sammelbands greifen aus verschiedenen Perspektiven das Thema Zielgruppe auf. Den Orientierungsrahmen für die unterschiedlichen Beiträge liefert Markus Nickl im ersten Artikel des Bandes unter dem Titel “Mit Methode zur Zielgruppe“. Er formuliert eine Vorgehensweise, um sich der Zielgruppe der technischen Dokumentation zu nähern. Außerdem erklärt er zwei erprobte Methoden der Zielgruppen-Analyse (Was-macht-wer-Matrix, Persona). Im zweiten Beitrag ordnet Jens Heuer die Zielgruppen-Analyse in den rechtlichen Kontext ein und thematisiert in diesem Zusammenhang den wichtigen Aspekt des vorhersehbaren Fehlgebrauchs eines Produktes. In den nächsten Beiträgen des Sammelbandes werden unterschiedliche Kategorien der Zielgruppen-Analyse wie Geschlecht, Kultur, Alter, Menschen mit Einschränkungen thematisiert. Die Bedeutung von Zielgruppen auf das Texten wie auch auf die Visualisierung bilden Schwerpunkte von zwei weiteren Artikeln. Der Sammelband endet mit einem Beitrag von Herrn Siegel, der ein Zukunft-Szenario entwirft. Dabei skizziert er eine Plattform, wo alle Informationen zu Produktgruppen gesammelt sind und individualisiert abgerufen werden können.

Zielgruppen-Analyse nach Markus Nickl
Markus Nickl möchte mit seinen Ausführungen Redaktionen den Weg zu einer Zielgruppen-Analyse ebnen und zeigt, wie ein Zielgruppen-Modell sich aufbauen lässt. Er plädiert dafür, zunächst Daten zu den Zielgruppen zu sammeln. Dabei kann die Redaktion auf das Know-how von anderen Abteilungen zurückgreifen. Aus seiner Sicht wäre eine unternehmensinterne Arbeitsgruppe ideal, die das Zielgruppen-Wissen der Firma sammelt. Danach steht nach Nickl der Differenzierung der Zielgruppen im Mittelpunkt der Arbeit. Die Einteilung bzw. Zusammenfassung von Zielgruppen ist zwar produktabhängig, aber einige Aspekte haben sich bewährt:

  • Sprachkenntnisse
  • Verstehens-Voraussetzungen (Lesefähigkeit, Technik-Affinität etc.)
  • Beruf
  • Lesesituation

Anschließend stellt der Autor die bekannten Methoden der Zielgruppen-Analyse (Was-macht-wer-Matrix, Persona) vor. Aus seiner Sicht lassen sich Methoden aus anderen Bereichen wie dem Marketing oder der Usability-Forschung nur bedingt auf die Welt der technischen Dokumentation übertragen.

Geschlecht als Kategorie
Kirsten Brettschneider macht in ihrem Beitrag Vorschläge, wie Redakteure auf unterschiedliche geschlechtsspezifische Bedürfnisse reagieren können. Es sei angemerkt, dass die Ideen nicht neu sind und aus anderen Gründen schon in viele Anleitungen eingeflossen sind. Leider beruhen viele ihrer Erkenntnisse (bisher noch) auf Hypothesen, Studien in diesem Bereich stehen noch aus.

Ohne Kultur geht es nicht
Die Relevanz des Sprach- und Kulturraums für das Verfassen und des Verstehens der technischen Dokumentation diskutiert Petra Drewer. Technische Redakteure ruft sie dazu auf, sich mit ihrer eigenen Kulturgebundenheit und die Auswirkungen auf den Text auseinanderzusetzen. Auch wenn wir als deutsche Muttersprachler einen Text in englischer Sprache schreiben, entkommen wir unserem deutschen Kulturraum nicht. Wir verfassen eine kulturgeprägte Anleitung, die englische Muttersprachler irritieren könnte. Einen kulturneutralen Text gibt es nicht, es gilt vielmehr, die Anzahl der sprachlichen und kulturellen Stolpersteine zu identifizieren und mit ihnen umzugehen.

Was für die einen gut ist, hilft auch den anderen
Ältere Menschen stellen nach Clemens Schwender eine wichtige Zielgruppe von technischer Dokumentation dar. Mit steigendem Alter greifen Menschen immer häufiger zu Anleitungen und lesen diese zudem intensiver. In seinem Beitrag weist er zurecht auf den Umstand hin, dass nicht alle Anforderungen dieser Zielgruppe auf ihr Alter und die damit verbundenen körperlichen und geistigen Einschränken beruhen, sondern dass es vor allem Anforderungen gibt, die mit Sozialisation und Erfahrung zusammenhängen. Häufig sind ältere Menschen den Umgang mit einem technischen Produkt noch nicht gewohnt und bewältigen dementsprechend auftretende Probleme nicht spontan und selbstverständlich. Trotz aller altersbedingten Unterschiede wollen alle Nutzer Technik umgehen und diese u. a. in einer Anleitung erklärt bekommen. “Instruktionen, die von jungen Menschen gut verstanden werden, sind auch für ältere geeignet (S. 70).” Zu einem ähnlichen Schluss gelangt im Prinzip auch Ulrike Peter. Ihr Beitrag widmet sich der Kategorie Personen mit Einschränkungen. Als Fazit stellt sie fest, dass alles was, generell die Qualität und dem Komfort der Dokumentation erhöhen, sind „für diese Zielgruppen (Personen mit Einschränkungen) unabdingbar zur Sicherstellung der Zugänglichkeit sind (S. 85).“

Bild ist nicht gleich Bild
Kerstin Alexander stellt eine Fallstudie bezüglich der Art von Abbildungen in Anleitungen vor. Dabei interessierte sie u. a. die Frage: „Welche Unterschiede bringen Alter, Geschlecht und Technikaffinität in der Bildlesefähigkeit mit sich? Mit Hilfe eines Fragebogens und einer praktischen Anwendungsaufgabe näherte sie sich ihrem Forschungsinteresse. Die Auswertung der Fragebögen ergab, dass die Fotografie zur Visualisierung einer Handlung für alle Zielgruppen ungeeignet ist. Dagegen belegt der praktische Test, „dass farbige Fotografien zielgruppenübergreifend die besten Ergebnisse erzielten (S. 144).“ Diesen bemerkenswerten Widerspruch diskutiert die Autorin leider nicht weiter.

Induvidualisierbare Dokumentation
Siegfried Siegel lässt uns quasi an seinem Projekt „mein neues Smartphone“ teilhaben und nimmt damit die Rolle des Nutzers einer Anleitung ein. Auf diese Weise weist er auf ein Problem hin, dass der Nutzer in vielen Anwendungssituationen nicht die Anleitung nur für ein einzelnes Produkt benötigt, sondern eine produktübergreifende Darstellung hilfreich wäre. Vor diesem Hintergrund entwirft Herr Siegel eine Idee eines Portals, wo jeder nach seinen Wünschen und Bedürfnissen seine Dokumentation selbst zusammenstellen kann.

Fazit
Für Redakteure, die sich bisher gar nicht oder wenig mit der Thematik der Zielgruppe auseinandergesetzt haben, ist der Sammelband zu empfehlen, da er viele Aspekte bündelt und zusammenführt.
Mich persönlich hat der Sammelband etwas enttäuscht. Punktuell konnte ich einzelnen Beiträgen ein paar neue Gedanken, Ideen entnehmen, wie z. B. dem Beitrag von Kerstin Alexander. Aber sonst sind die Aspekte mehr oder weniger schon diskutiert worden. Außerdem fehlt mir die kritische Auseinandersetzung damit, was denn eine Zielgruppe ist. Diesen Gedanken geht Martin Häberle in seinem Blogbeitrag nach. „Aber warum Zielgruppen wichtig sind, wie man sie ermitteln und beschreiben kann, und vor allem was das Technischen Redakteuren bringt, ist nach wie vor unklar.“ Die Übertragung der Erkenntnisse in die Praxis kommt in dem Sammelband definitiv zu kurz. Die Idee von Markus Nickl einen Zielgruppen-Zirkel im Unternehmen einzurichten, erinnert mich ein bisschen an die 70er, 80er Jahre. Wenn ich nicht mehr weiter weiß, gründe ich einen Arbeitskreis.
Es ist schade, dass die Herausgeber und die Autoren die Chance verpasst haben, den Redaktionen neue Impulse zu geben. Wenn Sie neue Impulse wünschen, kann eine Inhouse-Workshop für Sie interessant sein. Sprechen Sie mich an: ed.sreog-attirb@ofni oder 0151 16512182.

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