Was ist bestimmungsgemäße Verwendung und was vorhersehbarer Fehlgebrauch?

Ausgangspunkt der (externen) technischen Dokumentation sollte eine Sicherheitsbewertung des Produktes bilden. Aufbauend auf den Ergebnissen dieser Beurteilung formuliert jeder technischer Redakteur wie auch jede technische Redakteurin das Sicherheitskapitel, die technisch unvermeidbaren Restrisiken fließen in die Anleitung ein. Der Hersteller ist verpflichtet, die Anwender vor Risiken zu warnen, die bei bestimmungsgemäßer Verwendung und auch bei vorhersehbarem Fehlgebrauch auftreten können.

Bestimmungsgemäße Verwendung versus vorhersehbarer Fehlgebrauch

Bezüglich der bestimmungsgemäßen Verwendung ist u. a. die Frage zu beantworten: Welche Aufgabe hat das Produkt? Weitere wichtige Aspekte wie Betriebsarten sowie die Einsatzbereiche in Industrie, Gewerbe oder Haushalt sind ebenfalls zu betrachten.
Bezüglich des vorhersehbaren Fehlgebrauchs steht u. a. die Frage zur Diskussion, was passiert, wenn andere als die vorgeschriebenen Ersatzteile oder Betriebsmittel, wie Kühl- oder Schmiermittel verwendet werden. Die DIN EN 82079-1 definiert den vorhersehbaren Fehlgebrauch als „Anwendung eines Produkts in einer Weise, die nicht von Produzent oder Lieferant beabsichtigt ist, die sich jedoch aus vorhersehbarem menschlichen Verhalten ergeben kann.“ (Entwurffassung der Norm, im DIN-VDE Taschenbuch 351).
Was ist nun unter vorhersehbarem menschlichen Verhalten zu verstehen? Mögliche Antworten können zum Beispiel die Beschwerden von Anwendern wie auch Service- und Wartungsberichte geben.

Grundsätzlich ist der Produkthersteller verpflichtet, vor Risiken zu warnen und mit fast jedem technischen Produkt ist ein konstruktiv nicht vermeidbares Restrisiko verbunden. Aber wo endet ein Fehlgebrauch und wo fängt der Missbrauch an? Die Beurteilung lässt sich nur im Einzelfall und vor dem Hintergrund der zu erwartenden Anwender treffen (siehe dazu die Beiträge zur Zielgruppen-Analyse). Im Nachfolgenden möchte ich mich diesen Fragen anhand von zwei Gerichtsurteilen nähern.

Fehlgebrauch kann auch Verwechselung sein
Das VG Berlin hat im Februar 2012 bestätigt, dass bestimmte Elektrofahrräder nicht mehr zu vertreiben sind. In der Urteilsbegründung verweist das Gericht explizit darauf, dass aufgrund der Steckerkonstruktion eine vorhersehbare Fehlanwendung anzunehmen sei. Durch Verwechselung sei es möglich, dass Anwender den Akku des Fahrrades direkt an ein 230-V-Wechselstrom-Netz anschließen und nicht an eine 36-V-Gleichstrom-Spannung-Quelle. Die fehlende Auseinandersetzung mit einer möglichen Fehlanwendung führte damit zu einem Verkausstopp des Produktes. Unter Fehlgebrauch ist demnach auch das Verwechseln von Steckern und Kabeln zu verstehen.
(Quelle: http://openjur.de/u/286133.html; VG Berlin, 9. Februar 2012, Aktenzeichen 1 L 422.11)

Bequemlichkeit ist sozial übliches Verhalten und kein Fehlverhalten
Jeder Hersteller ist verpflichtet, fehlerfreie Produkte auf den Markt zu bringen. Erforderlich sind Sicherheitsmaßnahmen, die nach dem Stand der Wissenschaft und Technik konstruktiv möglich und geeignet sind. Der maßgebende Stand der Wissenschaft und Technik darf aber nicht mit Branchenüblichkeit gleichgesetzt werden, denn die in der jeweiligen Branche tatsächlich praktizierten Sicherheitsvorkehrungen können durchaus hinter der technischen Entwicklung und damit hinter den rechtlich gebotenen Maßnahmen zurückbleiben. Ein Produktfehler liegt auch dann vor, wenn Sicherungsmaßnahmen vom Anwender unbeabsichtigt außer Kraft gesetzt werden können. Dies geht u. a. dem Urteil des OGH Republik Österreich vom 28.02.2012 hervor. (Az. 8 Ob21/11p, besprochen von Marcel Schator in seinem ProdR-Report 1.2013, Volltext des Urteils)

Aus meiner Sicht ist das Urteil bezüglich der Einordnung der Begriffe „vorhersehbarer Fehlgebrauch“ und „Bedienungsfehler“ interessant. Wenn der Anwender durch eine unbeabsichtigte Berührung oder einen Flüchtigkeitsfehler eine Sicherheitsvorkehrung außer Kraft setzt, ist dies (laut Urteil) nicht automatisch als grober Bedienfehler zu werten. In dem konkreten Fall hatte der Fahrer eines Traktors die Handbremse angezogen, den Schalthebel auf Neutralstellung gestellt und bei laufendem Motor den Führerstand verlassen. Beim Aussteigen berührte der Fahrer den Schalthebel unbeabsichtigt, dadurch bewegte sich der Hebel in einen instabilen Zwischenstand und sprang anschließend in den ersten Gang. Der Traktor setzte sich dann in Bewegung und es kam zu einem Unfall. Auch wenn der Fahrer gegen die Bedienungsanweisung verstoßen habe, wurde er von einer Schuld freigesprochen. Sein Verhalten beurteilte das Gericht als vorhersehbar. Der Hersteller hätte damit rechnen müssen, dass ein Fahrer trotz Warnungen aus Bequemlichkeit nicht jedes Mal alle Sicherheitsmaßnahmen ausführt, insbesondere wenn bei Arbeiten ein mehrmaliges Auf- und Absteigen des Traktors erforderlich ist. Dieses Verhalten sei als sozial üblich einzustufen und hätte demnach vom Hersteller berücksichtigt werden müssen.

Fazit
Bei der Diskussion des Aspektes vorhersehbarer Fehlgebrauch eines Produktes ist also immer das soziale Umfeld, die Anwendungssituationen wie auch mögliche Verwechselungen von Komponenten zu berücksichtigen. Als technische Redakteure können wir auf Zusammenhänge und Aspekte hinweisen, aber verantwortlich sind Konstrukteure und Entwickler diese Umstände zu beachten, zu beurteilen und konstruktiv zu lösen.

Und nun?
Wenn Sie mehr über den vorhersehbaren Fehlgebrauch oder über andere Aspekte von sicherheitbezogenen Informationen in Anleitungen erfahren möchten, dann kann ein Inhouse-Workshop zu diesem Thema Ihnen weiterhelfen. Sprechen Sie mich an: ed.sreog-attirb@ofni oder 0151 16512182.
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